Das Wachstum einer Geschichte
"Orenda - Beast from the East" entwickelte sich über viele Jahre aus einer Geschichte, die ich schrieb, als ich fast noch ein Kind war. In diesem Alter ist es noch selbstverständlich, dass die Guten gewinnen, die Welt ist schwarz und weiß und das wahre Böse besteht aus gemeinen Worten großspuriger Antagonisten.
Doch sind die Guten wirklich immer gut? Gibt es nicht auch Entscheidungen, die mehr als fragwürdig sind, die man aber treffen muss? Warum sind die Bösen schlecht? Haben sie nicht vielleicht auch Beweggründe für ihre Taten? Und ist Magie immer die Lösung, um etwas Fantastisches zu erschaffen? Ist das Phänomen des Deus ex machina, des plötzlich auftretenden Überwesens im Moment größter Not, nicht etwas langweilig?
Dass fünf Freundinnen, wie ich sie damals mit elf Jahren entwarf, nicht auf ewig zusammen bleiben, lernte ich in der Realität. Und seien wir ehrlich, Mr. Perfect zu finden ist schon so schwer genug. Ich halte es also für reichlich optimistisch ihm bei der Rettung der Welt zufällig über die Füße zu laufen.
Irgendwann beschloss ich auch, dass ich mich zu Studienzwecken einmal mit dem Horror-Genre auseinander setzen musste. Immerhin wollte ich dem Buch auch ein paar schaurige Elemente hinzu fügen.
Ich habe Stephen Kings "Es" nie fertig gelesen und kann Horror Filme nur am helllichten Tag oder in Gesellschaft ansehen...
Es gibt mittlerweile einige Versionen dieser Geschichte. Und wenn ich einige sage, dann meine ich mehr als ich zählen kann. Denn ich war nie zufrieden damit. Word-Dokumente von über 700 Seiten (Times New Roman, Schriftgröße 12) landeten im Papierkorb, weil ich, nachdem ich die Geschichte abgeschlossen hatte, noch so viel fand, an dem ich etwas auszusetzen hatte, das der Flickenteppich aus Korrekturen am Ende auseinander fallen musste.
Jedes Mal, wenn ich die Geschichte neu anfing, war es gleichzeitig eine Enttäuschung wie ein Befreiungsschlag. Man muss sich das vorstellen: Ihr beschließt aktiv ein Projekt, an dem ihr um die zwei bis drei Jahre intensiv gearbeitet habt, in die Schublade zu legen und fangt nochmal bei Seite eins an! All die Fehler, die ihr verzweifelt versucht habt zu korrigieren sind weg. Doch genauso all die Stunden an Arbeit, die ihr in eure liebsten Szenen und Ideen investiert habt. Ihr schreibt sie nochmal, in der Hoffnung, dass sie damit noch besser werden. Doch Manche passen garnicht mehr in dieses neue Bild...
Zuerst arbeitete ich mich reichlich Klischees, dann verwehrte ich mich gegen jedes Einzelne und versuchte das Rad völlig neu zu erfinden. Ich brauche kaum zu erwähnen, dass gerade dieser Versuch kläglich scheiterte.
Denn alles, was man sich ausdenken kann, ist irgendwann von irgendwem schon einmal nieder geschrieben worden. Und der Mensch kann sich nur das vorstellen, was er selbst erlebt hat. Sei es durch eigene Erinnerungen oder andere Medien wie Bücher, Kinofilme, Musik... die Möglichkeiten scheinen unendlich. Sind sie aber nicht.
Am Ende gab es alles schon einmal.
Das, was eine gute Geschichte ausmacht, ist meiner Meinung nach zu einem großen Teil eine gewissen Leidenschaft, denn lieblose Worte befeuern niemandes Phantasie. Die besten Texte habe ich immer voller Aufregung geschrieben. Die Schlechtesten, wenn ich für die Szene, die ich beschrieb, nicht viel übrig hatte und sie lediglich als Lückenfüller betrachtete.
Und zusätzlich braucht es das Fingerspitzengefühl, sich aus dem Meer der Ideen genau die Puzzlestücke auszusuchen, die uns, neu zusammen gesetzt, vergessen lassen, das wir sie schon kennen.
Schlussendlich sind meine Geschichten mit mir gewachsen. Und haben mir den ein oder anderen Spleen beschert...
In der Linguistik wird ein Phänomen beschrieben, das vermutlich so alt ist wie die Sprache selbst.
Der "Wortzauber".
Im Hebräischen gibt es kein Wort für "sein", denn alles was ausgesprochen wurde, existiert. Es ist. Ein Wort wie "sein" ist also völlig überflüssig.
Das ist sehr ähnlich zu den klassischen Zaubersprüchen und Verwünschungen.
Auf eine Beleidigung kommt heute nur noch selten eine Reaktion wie "Nimm das zurück". Früher jedoch glaubte man daran, dass einmal ausgesprochene Dinge in Erfüllung gehen würden. Einen Fluch über jemanden zu verhängen, indem man ihm die Nesselsucht wünschte, wurde also nicht auf die leichte Schulter genommen.
Worte hatten große Macht. Und zwar, weil die Leute daran glaubten.
Wirklich begeistert war ich dann von jenen Wörter in Sprachen, die kaum zu übersetzen waren. Sie sind in ihren Sprachen einzigartig.
Darauf gestoßen hat mich, vor vielen Jahren, meine Cousine, die chinesisch und japanisch studierte und die ich damals schon sehr dafür bewunderte. Sie berichtete mir von ihrer Reise nach Japan und ihrem neuen Sprachverständnis, das sie von dort mitgebracht hatte. So gab es dort ein hochtrabend dramatisches Wort.
Yurusenai ( 赦せない ) bedeutet so viel wie "Du wirst keine Gnade erfahren!".
Natürlich stellte ich mir dabei sofort einen voll gerüsteten Samurai zu Pferde vor, der nun in den Kampf gegen seinen schlimmsten Feind zog!
Und sie brachte mir noch ein weiteres Wort bei.
Age otori ( 上げ 劣る ) klang vielversprechend, ging aber in eine völlig andere Richtung. Es bedeutet nämlich so viel wie "Nach dem Friseurbesuch schlimmer aussehen als vorher". Dass eine Kultur für eine solche Gegebenheit extra ein Wort erfunden hat, lässt tief blicken. Ganz zu schweigen davon, dass natürlich die ganze Familie vor Lachen unterm Tisch lag...
Ich fing an Ausschau nach diesen Wörtern und ähnlichen Phrasen zu halten und habe sie großzügig in die Geschichte von "Orenda - Beast from the East" eingebaut.
Beast from the east lässt sich tatsächlich ganz wörtlich übersetzen, das "Biest aus dem Osten". In London jedoch war es einmal eine Redewendung für das kalte Wetter, den hereinbrechenden Winter.
Orenda stammt aus dem irokesischen Sprachraum und ist der Begriff für eine mystische Kraft, die in allen Menschen präsent ist und ihnen die Macht verleiht, die Welt zu beeinflussen oder eine Veränderung in ihrem eigenen Leben herbei zu führen. Selbstbestimmung und Freiheit haben hier also durch ein Wort eine magische Komponente erhalten. Sie sind eine mystische Kraft geworden, an die man glauben kann. Fällt es einem oft sehr schwer, an sich selbst zu glauben, so ist es doch leichter, an eine solche, fremde, unerklärliche Macht zu glauben. Was viel über uns Menschen aussagt.
Die Herkunft des Begriffes Jolly Roger ist unklar, doch assoziieren wir damit sofort die Seefahrt und Piraterie. Und natürlich habe ich diesen Namen nicht einfach so für das Kaffee ausgesucht, in dem meine Protagonistin arbeitet.
Und ihr Name, Pollydora, stammt von Polydora, einer Figur der griechischen Mythologie, deren Herkunft so verworren ist, dass man sich nie ganz sicher sein kann.
Jedes einzelne dieser Wörter, jede Phrase, die ich in meine Geschichte eingebaut habe, gibt einen Hinweis auf Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft meiner Protagonisten. Eine Kleinigkeit nur, hinter der erstaunlich viel Überlegung steckt und die mir persönlich eine diebische Freude bereitet.
Denn was sind Schriftsteller anderes als Wortzauberer?
Aus dem Koffer geplaudert...
Ein Nähkästchen ist das bei mir schon lange nicht mehr. Da wäre niemals genug Platz.
Bis heute nutze ich als Lager für meine Ideen und Entwürfe einen großen, schwarzen Koffer, den ich von meinem Großvater geerbt habe. Er hat mit seinem alten Besitzer einiges durchgemacht und erscheint mir deshalb genau richtig, um so viel Geschichte zu beherbergen.
Die Urversion von "Orenda - Beats from the East" hatte seinen Ursprung in Langeweile während der Schule. Ich ließ mich leicht ablenken und schließlich versuchte man mein ständiges malen und kritzeln damit zu unterbinden, dass man mir sukzessive das Etui leer räumte.
Am Ende blieben mir: ein Füller und ein Blatt Papier.
Ich stellte fest, dass man mich in Ruhe ließ, wenn ich nicht malte, sondern schrieb. Das suggerierte Aufmerksamkeit. Ich erwähne nebenbei, dass ich es trotzdem an die Uni geschafft habe und mich da heute auch sehr wohl fühle.
Ich beschrieb also die Bilder in meinem Kopf anstatt sie zu malen und bevölkerte sie mit Feen und Zwergen und Drachen.
Schreiben wurde zu einer Leidenschaft. Und immer ging es um etwas Fantastisches. Um Magie und Fabelwesen, die unsere normale Welt im geheimen bevölkerten oder eine eigene Welt ganz für sich hatten, für Außenstehende nicht zu erreichen.
Nur meine Protagonisten konnten das. Diese Welten betreten und sie durchwandern.
Doch ich fand es bald langweilig einfach zu behaupten, dass meine Figuren die verschollenen Regenten geheimer Königreiche waren oder auserwählt von den Göttern der Elemente, weshalb sie natürlich magisch und zusätzlich unfassbar mächtig waren. Und trotzdem wollte ich gewisse Aspekte behalten.
In jeder Version von "Orenda - Beast from the East", lebte meine Protagonistin zu Beginn in unserer Welt. Ich wollte, dass sie sich über all das Fantastische genauso wundert, wie ich es getan hätte.
Auch die Fabelwesen haben sich gehalten, obwohl sie heute weit weniger possierlich sind. In meinem Kopf entstand eine Welt voller Wesen, die zugleich grausam wie auch wunderschön sein konnten.
Ich mag Pferde. Doch durfte ich mal einen Schriftsteller kennen lernen, dessen Protagonisten auf einem übergroßen, flauschigen Käfer ritten. Warum also kein Büffel als Reittier? Nicht so elegant, dafür aber ausdauernder und stärker. Oder aber eine Abart des prähistorischen Gürteltiers? Groß wie ein VW-Käfer, ziemlich schnell und gute Schwimmer. Und dann natürlich jene Wesen, die einem das Reisen schwer machen. Zum Beispiel zweifingrige Riesenfaultiere.
Ich habe durch die Recherche für Kreaturen dieses Buches eindeutig mehr über die Geschichte unserer Flora und Faune gelernt, als ich jemals geplant hatte.
Auch wollte ich die Andersartigkeit meiner Figuren immer hervor heben. Schon in unserer Welt entsprechen sie nicht gänzlich dem Standard. Was vermutlich daran liegt, dass auch ich nicht dem Standard entspreche. In einer anderen Welt, wo sowieso alles anders ist, wäre es leicht unter zu tauchen. Doch ich glaube, dass es ein Misstrauen gegenüber dem Fremden überall gibt.
Eine Weile habe ich überlegt Emotionales wie Beziehungen und die Suche nach Mr. Perfect gänzlich aus meiner Geschichte zu streichen. Heute findet man viele Bücher, in denen das Retten der Welt zwar Thema ist, jedoch nur sekundär. Er oder Sie ist viel wichtiger! Doch auch ich lese solche Geschichten bisweilen sehr gern. Und am besten gefielen mir jene, in denen es eben nicht Mr. Perfect war, sondern Mr. Right. Nicht der perfekte Partner, sondern der Richtige. Der, den es in diesem Moment braucht. Und dann noch jene, die ganz allgemein oder auch nur gerade jetzt die Falschen sind.
Ich bin mittlerweile fast zufrieden mit "Orenda - Beast from the East". Und ich weiß, dass ich genau diese Antwort noch geben werde, wenn das Buch längst gedruckt wurde. Ich werde es nie ganz sein. Doch schlimm finde ich das nicht.